ÜBER UNS

Vorstand seit Juni 2022 v.l.n.r.: Hamidou Bouba, Necmiye Sann, Özcan Irkan, Sévérine Jean, Andrej Block.

[ Versuche politischer Partizipation ]

Das über Jahrzehnte hinweg bestehende Dogma “Deutschland ist kein Einwanderungsland“ und die daraus resultierende seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts praktizierte innenpolitische Fehlsteuerung führte für die soziale Situation der Eingewanderten und die gesamte Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland zu schwerwiegenden Konsequenzen. Die durchschnittlich schlechtere ökonomische und berufliche Stellung und die überproportional hohen Arbeitslosen- und Sozialhilfequoten von Migrantinnen und Migranten haben ihre Ursache in der politischen Leugnung der Anwesenheit dieser Menschen. Dieser gravierende Mangel findet seine Fortführung in dem zum 01.01.2005 in Kraft tretenden Zuwanderungsgesetz, da die bereits Eingewanderten keine bzw. nur unzureichende Möglichkeiten haben werden, an den neuen Integrationsmaßnahmen teilzunehmen. Außerdem reduziert das Gesetz Integration im Wesentlichen auf das Beherrschen der deutschen Sprache sowie Grundwissen der Staatsbürgerkunde.

In Zeiten, in denen kommunale Interessenvertretungen der Eingewanderten – also Integrations- und Ausländerbeiräte, Beiräte für Migration und Ausschüsse – in Niedersachsen in der Gemeindeverfassung, der Nds. Gemeinde- oder Landkreisordnung, noch immer nicht verankert sind bzw. in einigen Regionen wieder abgeschafft werden sollen, ist es um so wichtiger, die politische Partizipation von Migranten erneut zu thematisieren. Aus diesem Anlass hat der NIR am 11.09.2004 in Hannover über 50 Sachverständige aus ganz Niedersachsen eingeladen, um über die Zukunft politischer Partizipation zu diskutieren. Vertreter aus Wissenschaft, Landespolitik und die Mitglieder des NIR als Entsandte der Kommunen sind die relevanten Akteure in diesem Land, die die Verantwortung der Interessenvertretung vor Ort, von über 500.000 Eingewanderten in Niedersachsen tragen. Herr Stephan Weil, Dezernent der Stadt Hannover und zukünftiger Oberbürgermeister-Kandidat, machte als Gastredner auf die Folgen der veränderten Bevölkerungsentwicklung aufmerksam: „…der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund steigt deutlich.“ Weil betonte, dass die Kinder dieser Menschen in diesem Land bleiben werden und somit die Zukunft darstellen, und er beklagte, wie es sich ein Land leisten könne, diesen Teil der Bevölkerung im Hinblick auf Bildung und Chancen dermaßen zu vernachlässigen. Darüber hinaus ist zu beobachten, dass die städtischen Haushalte durch immer mehr Transferleistungsbezieher belastet werden und leistungsstarke Haushalte ins Umland abwandern. Die Städte werden zum Schmelztiegel aller sozialen Verwerfungen.

Prof. Dr. Lutz Hoffmann, Bielefeld, als ein Referent der o.g. Veranstaltung hat neben dem Osnabrücker Dr. Michael Bommes, Mitglied des aus Wissenschaftlern zusammengesetzten Rates für Migration, und Prof. Dr. Axel Schulte, Hannover, bereits in den achtziger Jahren maßgeblich bei der ideologischen Gestaltung von Interessenvertretungen mitgewirkt. In den 90er Jahren setzte Hoffmann vor dem Hintergrund des neu eingeführten Kommunalwahlrechts für EU-Bürger wesentliche Impulse bei der Reform der damaligen Ausländerbeiräte in Niedersachsen. Zur gleichen Zeit wurden die Integrationsbedarfe im Hinblick auf den Zuzug von Aussiedlern spürbar, die als „Deutsche von Amtswegen“ her komplett mit allen Wahlrechten ausgestattet wurden. Dass diese Bevölkerungsgruppe sozioökonomisch weiterhin als Einwanderer zu sehen sind, stellte und stellt die Grundlage dar, ihre besonderen Interessen weiterhin über besondere Einrichtungen vertreten zu können, da sie im allgemeinen parlamentarischen System als Minderheit ungeachtet bleiben. In diesem Kontext ist es nach wie vor zu bedauern, dass mit der Einrichtung einer Ausländer- und eines Aussiedlerbeauftragten auf Bundesebene der Eindruck erweckt wird, es gäbe Migranten mit strukturell unterschiedlichen sozioökonomischen Bedürfnissen.

An diesem Punkt hat die AG KAN über ihre Mustersatzungen und Wahlordnungen großen Einfluss auf die Mitglieder gehabt bzgl. der Reform der Gremien vor Ort. Doch das bundesweit gesehen schnellste Handeln auf die veränderte Situation (Kommunales Wahlrecht für EU-Bürger und der vermehrte Zuzug von Aussiedlern) konnte die AG KAN nur deshalb leisten, weil es – wie bereits oben erwähnt – bis heute seitens der Landesregierung nicht gewollt ist, die Interessenvertretungen in der Kommunalverfassung zu verankern.

Natürlich hat die AG KAN bzw. der NIR die Verankerung in der Kommunalverfassung angestrebt. Dies ist in den 80er und 90er Jahren auch sehr professionell über schriftliche Stellungnahmen und Anhörungen im Landtag geschehen. Doch politisch waren diese Anliegen nicht opportun. Offiziell begründet wurde diese Haltung jeweils damit, dass die Regierungen nicht in das Selbstverfassungsrecht der Kommunen eingreifen möchten. Diese Rechtfertigung ist aber nicht redlich oder schlicht eine Täuschung, da andere Eingriffe zahlreich zu beobachten sind. So ist 1996 die verpflichtende Einstellung von Frauenbeauftragten in der NGO und die Einrichtung von Sanierungsbeiräten im Abwassergesetz festgeschrieben worden. Die Tatsache, dass Frauen 1918 in Deutschland das allgemeine Wahlrecht erhielten, gibt Anlass zur Annahme, dass Beiräte Bestandteil von Kommunalverfassungen werden, nachdem Einwanderern das Wahlrecht – egal auf welchem Wege – zuerkannt wird. Die Ironie dieser Konsequenz entlarvt die Ignoranz, die einer progressiven Einwanderungspolitik im Wege steht.

[ Integration im Fokus der Demokratie ]

Für die Integration ist der Grundsatz der Demokratie von zentraler Bedeutung: das Prinzip der gleichen Freiheit jedes Menschen zur politischen Beteiligung. Zwischen diesem Ideal und der Wirklichkeit bestehen vielfältige Diskrepanzen. Dazu zählt auch der partielle Ausschluss von „Inländern mit ausländischer Staatsangehörigkeit“ vom Wahlrecht. Die Organisationen und Institutionen von und für Einwanderer können kein Ersatz für das Recht auf gleiche Partizipation sein. Unter bestimmten Voraussetzungen und in unterschiedlichen Formen können sie jedoch dazu beitragen, die objektiven und subjektiven Bedingungen hierfür zu verbessern und damit die Integration der Einwandernden aber auch der Gesellschaft insgesamt zu fördern. Über kommunale Gremien die Interessen von Einwanderern zu vertreten, hat mittlerweile sogar in der türkischen Stadt Alanya dazu geführt, den ersten Ausländerbeirat in der Türkei, der 10.000 Einwanderer vertritt, zu gründen.

Der Anspruch von Interessenvertretungen an Legitimation ist der, die Legitimation demokratisch zu begründen, also Wahlen zu Ausländer- oder Integrationsbeiräten zu veranlassen, weil Wahlen die Legitimation verkörpern, Interessen zu vertreten. Die in Zahlen ausgedrückte Wahlbeteiligung zwischen 4 % bis zu 50 % bei den Beiratswahlen in Niedersachsen führten viele Politiker als Begründung für die Abschaffung von Ausländer- oder Integrationsbeiräten an, und leider ließen sich Kolleginnen und Kollegen auf diese Diskussion ein. Die Wahlen finden nicht statt, um letztendlich 100 % zu erreichen, sondern Wahlen finden statt, um zu legitimeren. Folgender Vergleich ist zur Verdeutlichung dieser intellektuellen Verwirrung bzgl. der Abschaffung von Beiräten geboten: Niemand schlägt in Deutschland vor, die allgemeinen Sozialversicherungen abzuschaffen, weil bei den Sozialversicherungswahlen unter 1 % Wahlbeteiligung zu verzeichnen ist. Deshalb ist selbst ein Integrationsbeirat mit einer Wahlbeteilung von 5 % oder 8 % legitimiert.

[ Reflexion der Tagung im September 2004 in Hannover ]

Überwiegend kamen die Teilnehmer während der Tagung am 11.09. zu der Erkenntnis, dass es aus Sicht der Bedürfnisse der Einwanderer bis heute keiner Institution gelungen ist, den „abgeschafften“ Ausländerbeirat, trotz aller bekannten Mängel, „wirklich“ zu ersetzen. Integrationsbeauftragte stehen in der Abhängigkeit des Dienstherren und haben keine Vertretungslegitimation. Ausschüsse sind Ausschüsse im Sinne der Nds. Gemeinde- oder Landkreisordnung, mit der Folge, dass Migranten weder die Tagesordnung bestimmen noch eine eigenständige Öffentlichkeitsarbeit gestalten können. Sie haben nur Rederecht – wenn sie denn davon Gebrauch machen dürfen. Der Ausschuss in Wolfsburg wird derart auffällig von Ratsmitgliedern dominiert, dass für die Migranten neben der Rolle als Zuhörer die Aufgabe der Organisation „netter“ Multi-Kulti-Feste übrigbleibt. Und die einzelnen EU-Bürger oder die Eingebürgerten als Fraktionsmitglieder in den Räten bleiben mit ihren besonderen Anliegen unter dem Druck des Fraktionszwangs ohne Einfluss. Den Migrantenselbstorganisationen (Vereinen) fehlt es konstruktionsbedingt an politischen Schnittstellen für die Arbeit in einer parlamentarischen Ebene, politische Ableger dieser Organisationen können nur im Rahmen eines von Projektförderungen geduldeten Daseins aktiv sein und hinterlassen mancherorts den Eindruck, sie dienten ausschließlich der religiösen oder beruflichen Selbstverwirklichung ihrer Führung, aber eben nicht einer ausgewogenen Integrationsbewegung. Der Wissenschaft verpflichtete Organisationen, die sich dem Thema Integration widmen, können als Berater fungieren, sie haben aber keinerlei Rückkoppelung in die Öffentlichkeit und bleiben aufgrund ihrer elitären Struktur trotz der Einbringung großer Ressourcen in breiten Bevölkerungsschichten unbeachtet. Bei allem was landesweit zu sehen und hören ist, bildet sich die Erkenntnis, dass es nur der Integrationsbeirat ist, der seine eigene Tagesordnung bestimmt und seine eigene Öffentlichkeitsarbeit gestaltet, der in der Bevölkerung „verwurzelt“ ist und das bürgerliche Engagement dokumentiert sowie die demokratische Streitkultur unserer parlamentarischen Ebenen lebt. Dass dieses ehrenamtlich zusammengesetzte und somit weitestgehend kostenlose Gremium nun auch noch mancherorts abgeschafft werden soll, dokumentiert das ganze Ausmaß der Überforderung mit dem Thema Integration.

Erst wenn wir alle den Weg in eine neue „integrierte Gesellschaft“ gefunden haben, können wir die Beiräte abschaffen, die bis dahin den Dialog zwischen Mehrheit und Minderheit institutionalisiert führen. Eine Teilnehmerin aus Garbsen fasste zusammen:

„Wir müssen gemeinsam etwas Neues schaffen.“